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Politik- und SachbĂŒcher

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Hier stellen wir Politik- und SachbĂŒcher vor

Politik- und SachbĂŒcher - unsere Empfehlungen aus dem Bereich der SachbĂŒcher

Als BuchhĂ€ndlerin oder BuchhĂ€ndler liest mensch in der Regel mehr BĂŒcher als die meisten anderen. Und diese LektĂŒre-Erfahrungen geben wir gerne weiter.

Nur so sind wir der Frage "ich suche ein Buch zum Geburtstag, sie wird 30 Jahre alt" gewachsen, aber natĂŒrlich auch der Suche nach einer einschlĂ€gigen Abhandlung zur AktualitĂ€t von Karl Marx.

Ganz ungefragt stellen wir Ihnen hier einige ausgewĂ€hlte BĂŒcher aus unserem Bereich Politik- und SachbĂŒcher vor.

BĂŒcher-Auswahl

Politik und Sachbuch

Lutz Taufer – Über Grenzen


kartoniert, 286 Seiten, 19,80 €
Verlag assoziation-a, 2017
ISBN 978-3-86241-457-4


Lutz Taufer – Über Grenzen

Vom Untergrund in die Favela

Lutz Taufer hat in den Extremkonstellationen der linksradikalen Geschichte agiert, und da er darĂŒber ohne jede Beschönigung und in uneingeschrĂ€nkter Konfrontation mit den begangenen Fehlern schreibt und nachdenkt, wird sein Buch tatsĂ€chlich zu einem SchlĂŒsselwerk der 1960er bis 1980er Jahre.

Weiterlesen: Über Grenzen

Ulrich Brand, Markus Wissen – Imperiale Lebensweise

TB, 224 S., 14,95 €
oekom-Verlag 2017
ISBN 978-3865818430

TB, 128 S., 19,95 €
oekom-Verlag 2017
ISBN 978-3960060253


Die imperiale Lebensweise

Wir" mĂŒssen aufhören so zu leben wie bisher.
Und wir mĂŒssen das System verĂ€ndern.

Ulrich Brand, Markus Wissen – Imperiale Lebensweise

Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus 

I.L.A. Kollektiv – Auf Kosten Anderer?

Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben fĂŒr alle verhindert

Lesen Sie beide Buchbesprechungen 


Ulrich Brand, Markus Wissen – Imperiale Lebensweise

Die "Imperiale Lebensweise" (IL), verfasst von den Politologen Ulrich Brand und Markus Wissen, beruht auf einer Art gesellschaftsstabilisierendem Kompromiss zwischen den Interessen der Herrschenden und breiteren Schichten der Bevölkerung. Der Kapitalismus ist weder sozial noch ökologisch haltbar, die Menschen im globalen Norden leben auf Kosten anderer, es wird zu viel Auto gefahren, Fleisch gegessen und unnĂŒtzes Zeug produziert.

Die imperiale Lebensweise verweist auf "die Produktions-, Distributions- und Konsumnormen, die tief in die politischen, ökonomischen und kulturellen Alltagsstrukturen und -praxen der Bevölkerung im globalen Norden 
 eingelassen sind" (S. 44). Die IL beruht darauf, dass ihre zerstörerischen Folgen auf andere Regionen der Welt verlagert werden. (siehe auch: Stephan Lessenich – Neben uns die Sintflut).

Diesen Zusammenhang anzusprechen ist zwar nicht ganz neu, in der politischen Debatte und im allgemeinen Bewusstsein spielt er allerdings bestenfalls eine Nebenrolle. Das Verdienst der Autoren besteht darin, die damit verbundene Problematik weit ausgreifend, theoretisch gut begrĂŒndet und mit empirischem Material unterlegt aufzuzeigen.

I.L.A. Kollektiv – Auf Kosten Anderer?

Das I.L.A.-Kollektiv (I.L.A. fĂŒr "Die imperiale Lebensweise: Ausbeutungsstrukturen im 21. Jahrhundert") hat auf der Basis einer Schreibwerkstatt gar ein Dossier / Arbeitsbuch mit dem Titel "Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben fĂŒr alle verhindert" zusammengestellt. Auch dieses wurde vom Oekom Verlag im Sommer 2017 – wenige Monate nach dem Werk Brands und Wissens – herausgegeben. Diesem Arbeitsbuch gelingt es, die Aussagen zu konkretisieren und auch sprachlich zugĂ€nglicher zu machen.
Hier wird gefragt "nach den Potenzialen fĂŒr alternative Ideen und Konzepte, die in vielen Teilen der Welt an Bedeutung gewinnen und die dem berechtigten Unmut ĂŒber soziale Ungleichheit, ökologische Zerstörung und‚ postpolitische‘ Alternativlosigkeit zu einem emanzipatorischen Ausdruck verhelfen" (I.L.A. Kollektiv 2017, S. 5). Die dabei behandelten Themen reichen von Digitalisierung und Geld bis zu Sorge und Bildung.

Brand und Wissen gehen davon aus, dass die herrschende "multiple Krise" (sozial, ökonomisch, ökologisch und politisch) einen Wendepunkt darstellen und gesellschaftsverĂ€ndernde Initiativen vorantreiben könnte. Das wachsende Unbehagen an den bestehenden VerhĂ€ltnissen deute darauf hin. Es komme darauf an, die eigene Lebensweise zu hinterfragen und praktische AnsĂ€tze einer solidarischen Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Solche seien bereits in vielen Teilen der Welt anzutreffen. Ein Ziel mĂŒsse ein grundlegender institutioneller Umbau des Staates und eine umfassende Demokratisierung sein.
Die von den Autoren vorgelegte Analyse ist ĂŒberzeugend, auch wenn sie keinen Masterplan fĂŒr eine ökonomisch und politisch andere Gesellschaft vorstellen. Dazu braucht es praktische Erfahrungen, politische Bewegungen und ihre Reflexion bzw. weiter gehende theoretische Diskussionen. Dazu genĂŒgend Anlass gegeben zu haben, ist das Verdienst dieses lesenswerten Buches.

(hn)

Didier Eribon – RĂŒckkehr nach Reims


Roman, kartoniert
edition suhrkamp 2017
221 S., 18,00 €
ISBN 978-3-518-07252-3


Didier Eribon – RĂŒckkehr nach Reims

"RĂŒckkehr nach Reims" ist zwar schon im Mai 2016 erschienen, seine grosse Wirkung erzielte es aber erst in diesem FrĂŒhjahr vor dem Hintergrund des drohenden Aufschwungs der französischen "Front National" und dem Niedergang der europĂ€ischen Sozialdemokratie.

Ein Vater stirbt. Der Sohn macht sich auf die Suche. Was nach einem Roman- oder Filmanfang klingt, ist der autobiografische Kern einer unglaublich spannenden und bestĂŒrzend aktuellen RĂŒckschau: Didier Eribon, kosmopolitischer, schwuler Pariser Intellektueller, hatte mit seiner homophoben Familie radikal gebrochen. 

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Mit ĂŒber fĂŒnfzig kehrt er erstmals in seine Heimatstadt Reims zurĂŒck, sucht, mit der Mutter das Fotoalbum durchgehend, nach Spuren seiner proletarischen Kindheit. Herausgekommen ist eine Studie ĂŒber Herkunftsverleugnung, sexuelle und soziale Scham und die alles entscheidenden feinen Unterschiede in der französischen Elite. Ein autobiografischer, selbstreflektierender Text, der sehr feinfĂŒhlig und genau den gesellschaftlichen BrĂŒchen in der französischen Arbeiterklasse, in der französischen Linken, vorwiegend der Parti Socialiste, nachspĂŒrt. Verstörend und aufschlussreich in Zeiten von Brexit und dem europĂ€ischen Aufstieg des autoritĂ€ren Nationalismus.

(hn)

Claudia Knauer – DÄNEMARK


Chr. Links-Vlg. 2017
2. akt. Aufl.
224 S., 18,00 €
ISBN 978-3-86153-824-0


Claudia Knauer – DÄNEMARK

Ein LĂ€nderportrait

Passend zum LĂ€nderschwerpunkt "DĂ€nemark" des diesjĂ€hrigen Literatursommers hat der Christoph Links Verlag ein neues LĂ€nderportrĂ€t unseres Nachbarlandes veröffentlicht: Autorin ist die BĂŒchereidirektorin im Verband Deutscher BĂŒchereien Nordschleswig und langjĂ€hrige Redakteurin des Nordschleswiger in Aabenraa, Claudia Knauer.

Was wissen wir wirklich ĂŒber unsere Nachbarn?
Claudia Knauer erklĂ€rt uns nicht nur das Wesen von Minderheitsregierungen, die vielfache Kompromissfindung in den Parlamenten ĂŒber viele Parteigrenzen hinweg, warum selbst konservativen Regierungen ein fĂŒr deutsche VerhĂ€ltnisse ausgeprĂ€gtes Sozialsystem wichtig war und ist und ein vielbeschworenes Gemeinschaftsdenken gepflegt wird. NatĂŒrlich wird die rigide AuslĂ€nderpolitik der letzten Jahrzehnte, getragen von nahezu allen Parteien des Folketing, nicht verschwiegen und damit auf gesellschaftliche Spannungen und Dissonanzen verwiesen.

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Die Autorin zeichnet ein kenntnisreiches und unterhaltsames Bild unserer Nachbarn – ob sie vom Alltag, der Wirtschaft, vom dĂ€nischen Filmwesen oder vom Roskilde-Festival erzĂ€hlt. NatĂŒrlich erfahren wir auch, warum "hyggelig" so bedeutsam ist wie das Hotdog – und warum eine Deutsch-DĂ€nin doch nie eine richtige DĂ€nin werden wird 


Diese ĂŒberaus gelungene LĂ€nderkunde, die auch vielen langjĂ€hrigen DĂ€nemark-Reisenden immer wieder ĂŒberraschende neue Erkenntnisse vermitteln wird, stellt Claudia Knauer in der Carl-von-Ossietzky-Buchhandlung vor.

Claudia Knauer: Studium von Politikwissenschaft, Philosophie und Öffentlichem Recht, zog 1997 mit Mann und Sohn nach DĂ€nemark, wo ihre Tochter geboren wurde. Sie arbeitete mehr als 15 Jahre als Journalistin beim Nordschleswiger – der deutschen Tageszeitung in DĂ€nemark. Vor einigen Jahren hat sie die dĂ€nische StaatsbĂŒrgerschaft angenommen. Am 1. Januar 2015 hat Claudia Knauer den Stuhl in der Redaktion gegen den in der Deutschen ZentralbĂŒcherei eingetauscht. Als BĂŒchereidirektorin sorgt sie fĂŒr die Verbindung von deutscher und dĂ€nischer Kultur.

 

Volker Hagedorn – Bachs Welt


geb. Verlag Rowohlt
seit 2017 rororo
416 S., 12,99 €
ISBN 978-3-499-61748-5


Volker Hagedorn – Bachs Welt

Familiengeschichte eines Genies

Johann Sebastian Bach kennt jeder. Aber dass er der Spross einer 150 Jahre alten Dynastie von Musikern war, ist kaum im Bewusstsein.
Dieses Buch erzÀhlt die Geschichte eines erstaunlichen Clans in einem Europa des Umbruchs, das geprÀgt war von Kriegen und Seuchen.
Im 17. Jahrhundert wurde Musik ein Mittel gegen Elend und Tod, und die Bachs vor Bach beherrschten diese Kunst mit zunehmendem Genie.
Volker Hagedorn verfolgt ihren Weg ĂŒber Hochzeiten und TodesfĂ€lle, NotenblĂ€tter und OrgelbĂ€nke, bis schließlich der große Ausnahmekomponist in Erscheinung tritt.

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Zugleich schlÀgt das Buch den Bogen in die Gegenwart.
Wie sieht es heute dort aus, wo die Bachs lebten und Johann Sebastian zum Wunderkind wurde?
Hagedorn beschreibt die Arbeit der Forscher, fĂŒr die unscheinbare Aktennotizen zu Leuchtspuren durchs Barock werden.
Und er schildert einen der faszinierendsten Forschungskrimis der Musikgeschichte, der im zerbombten Berlin beginnt und an dessen Ende in der Ukraine das legendÀre "Altbachische Archiv" auftaucht - eine Notensammlung der Bachs vor Bach, das Fundament von Johann Sebastians Genie.

Hagedorns Buch entwirft ein farbenfrohes und facettenreiches Zeit- und SittengemÀlde, das die Wurzeln des Musikers Bach erstaunlich lebendig werden lÀsst.

Am 5. November 2016 las Volker Hagedorn aus seinem Buch bei uns in der Buchhandlung.

 

Stephan Lessenich – Neben uns die Sintflut


geb. Hanser Berlin 2016
seit 2018 ĂŒberarbeitet
als Piper TB
224 S., 11,00 €
ISBN 978-3-492-31269-1


Stephan Lessenich – Neben uns die Sintflut

Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis

Stephan Lessenich kritisiert in seinem neuen Buch den globalen Kapitalismus – ein Ereignis im Wissenschaftsbetrieb, da sich hier einer der etabliertesten Soziologen aus dem "Hotel Abgrund" herausbegibt. Lessenichs Buch ist fĂŒr eine breite Öffentlichkeit in einer schnörkellosen, verstĂ€ndlichen Sprache verfasst und besagt kurz zusammengefasst:

Uns im Westen geht es gut, weil es den meisten Menschen anderswo schlecht geht. Wir lagern systematisch Armut und Ungerechtigkeit aus, im kleinen wie im großen Maßstab – ergo Externalisierungsgesellschaft. Und wir alle verdrĂ€ngen unseren Anteil an dieser Praxis.

Lessenich formuliert im Grunde nichts Anderes oder Neues was vor ihm andere Autoren wie z.B. Wallerstein, Harvey, Sassen oder Altvater diagnostiziert haben – aber er bietet eine brillante, hoch aktuelle und politisch brisante Analyse der AbhĂ€ngigkeits- und AusbeutungsverhĂ€ltnisse der globalisierten Wirtschaft mit einer FĂŒlle von Daten und Fakten.

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Und er hĂ€lt sich mit seiner Kritik nicht zurĂŒck, er formuliert unterschwellig eine wĂŒtende Attacke: Das Nicht-wissen-Wollen ist der Habitus der Externalisierungsgesellschaft, klagt er an: "Wir leben nicht ĂŒber unsere VerhĂ€ltnisse. Wir leben ĂŒber die VerhĂ€ltnisse anderer".

Und warum sollten sich die Privilegierten der Welt sich jetzt auf VerĂ€nderungen einlassen? Letztlich aus aufgeklĂ€rtem Eigeninteresse: weil die Kosten der Externalisierung in Form von Klimakatastrophen und FlĂŒchtlingsbewegungen bereits jetzt bei uns an die TĂŒr klopfen. Denn auf unserem immer kleiner werdenden Planeten gibt es kein Innen und kein Außen mehr. Das Ende der Externalisierungsgesellschaft ist auch eine Frage der Zeit 
 Lessenich bleibt nicht bei der Moral, er stellt die Systemfrage und fordert radikales Denken: Politisierung und Kollektivierung und der Übergang vom "Empört Euch!" zum "Tut was!" werden herausgestellt.

Dass das noch viel zu wenig ist, um der Externalisierungsgesellschaft ZĂŒgel anzulegen, weiß Stephan Lessenich natĂŒrlich selbst. Mit seinem herausfordernden Buch hat er aber einen fundierten, aufwĂŒhlenden Anstoß fĂŒr eine weitergehende Diskussion gegeben. Lesen!

 

Corry Guttstadt – Wege ohne Heimkehr


geb. Assoziation A 2014
203 S., 19,80 €
ISBN 978-3-86241-440-6


Corry Guttstadt – Wege ohne Heimkehr

Die Armenier, der Erste Weltkrieg und die Folgen – einbhistorisch-literarisches Lesebuch

Vor 101 Jahren, im FrĂŒhjahr 1915 begann der Völkermord an den osmanischen Armeniern durch das jungtĂŒrkische Komitee, welches sich im Jahr 1913 an die Macht geputscht hatte und als enger BĂŒndnispartner des Deutschen Kaiserreiches auch in diesem Vorgehen deutsche UnterstĂŒtzung und RĂŒckendeckung erhielt.

Dieses Buch will in Form einer kommentierten historischen und literarischen Textsammlung ein Zeichen gegen das Vergessen setzen und an diesen Massenmord vor ĂŒber 100 Jahren erinnern, aber auch das Leben der Armenier vor und nach dem Ersten Weltkrieg darstellen. Es prĂ€sentiert vor allem literarische, hĂ€ufig autobiografisch geprĂ€gte Texte von (zumeist) Armeniern, die einen Eindruck ihrer vielfĂ€ltigen LebensrealitĂ€ten in Anatolien vermitteln. Weitere Texte schildern die Lebensbedingungen der ĂŒberlebenden Armenier in der TĂŒrkei, in der das Verbrechen bis heute von staatlicher Seite geleugnet wird. So gab es auch fĂŒr die meisten Überlebenden keine Heimkehr, ihre Familien waren ermordet, ihr Besitz beschlagnahmt.

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Die heftigen, teilweise hasserfĂŒllten Reaktionen staatlicher AmtstrĂ€ger unter FĂŒhrung des StaatsprĂ€sidenten Erdogan demonstrieren, wie eng die derzeitigen Machthaber noch der tĂŒrkischen imperialen Machtpolitik verbunden sind - und wie fern sie einer sachlichen Auseinandersetzung mit den Hypotheken eben dieser Machtpolitik stehen.
Diese Reaktion unterstreicht die Wichtigkeit dieses Buches.

Corry Guttstadt, geb. 1955, studierte an der UniversitĂ€t Hamburg Turkologie und Geschichte. WĂ€hrend der 1980er und 1990er Jahre arbeitete sie als Übersetzerin (TĂŒrkisch), Deutschlehrerin und freie Autorin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Situation der ethnischen und religiösen Minderheiten in der TĂŒrkei. Sie verbrachte ein Forschungssemester am Center for Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington DC und erhielt mehrere Forschungsstipendien (u.a. von der Fondation pour la MĂ©moire de la Shoah in Paris). 2011 und 2012 war sie Projektmanagerin des Projekts zum multiperspektivischen Geschichtslernen "Zuerst einmal bin ich Mensch" am Anne Frank Zentrum Berlin.

Ihre Dissertation "Die TĂŒrkei, die Juden und der Holocaust" basiert auf Recherchen in etwa 50 Archiven weltweit. Das Buch avancierte zum internationalen Standardwerk zum Thema und wurde inzwischen ins TĂŒrkische und Englische ĂŒbersetzt.

Derzeit erarbeitet Corry Guttstadt mit Förderung der Beate Klarsfeld Foundation und der Fondation pour la MĂ©moire de la Shoah eine Quellenedition zur Politik der TĂŒrkei wĂ€hrend des Holocaust.

Zum Buch Wege ohne Heimkehr

"Dies ist ein Weg, von dem es keine Heimkehr gibt", notierte Armin T. Wegner im November 1915 in Ras al-Ayn im heutigen Nordsyrien. Wegner, der 1915-1916 als SanitÀtssoldat der osmanischen Armee Augenzeuge des Völkermords an den Armeniern wurde, beschrieb mit seinem Tagebucheintrag das Los der vielen Hunderttausend Deportierten, die der sichere Tod erwartete.

Doch eine Heimkehr gab es auch fĂŒr die meisten Überlebenden nicht. Nicht fĂŒr Zabel Yesayan, eine der wichtigsten armenischen Schriftstellerinnen und engagierten Frauenrechtlerinnen ihrer Epoche, die sich der Deportation durch Flucht entzogen hatte, der die Erinnerung an den Ort ihrer Kindheit aber ein geistiger Zufluchtsort blieb. Nicht fĂŒr den Lehrer Hagop Mintzuri, der zeitlebens nicht in das Dorf zurĂŒckkehrte, aus dem seine Frau, seine vier Kinder und alle anderen Angehörigen deportiert worden waren.

Dieses Jahr jĂ€hrt sich der im Schatten des Ersten Weltkriegs begangene Völkermord an den Armeniern zum 101. Mal. Die meisten der in diesem Band versammelten Texte sind literarische, hĂ€ufig autobiografisch geprĂ€gte Texte von Armeniern, die damit selbst zu Wort kommen. Einige stammen von Überlebenden der Deportationen, darunter bekannten armenischen Schriftstellern wie Yervant Odian, aber auch von Personen wie Pailadzo Captanian, die aus dem BedĂŒrfnis schrieben, Zeugnis abzulegen ĂŒber die erlebten, unvorstellbaren Grausamkeiten.

Ein Großteil der Texte thematisiert nicht den Völkermord selbst, sondern die Erinnerungen von ArmenierInnen an ihr Leben vor 1914 oder das Weiterleben im Exil bzw. in der Republik TĂŒrkei. Sie vermitteln einen Eindruck der vielfĂ€ltigen LebensrealitĂ€ten von Armeniern im Osmanischen Reich. Armenier nahmen aktiv Anteil am intellektuellen Aufschwung gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ob Lyrik, Prosa oder Journalismus, von der Satire bis zum Theater, die armenische Literatur war ein entscheidender Bestandteil der osmanischen Literatur jener Epoche. In den Werken der armenischen AutorInnen drĂŒckt sich ihre Hoffnung und dann, angesichts der Ausgrenzung und Vernichtung ihres Volkes, ihre Verzweiflung aus, die sich ganz Ă€hnlich dem deutsch-jĂŒdischen Schreiben des frĂŒhen 20. Jahrhunderts in hellsichtiger Gesellschaftsanalyse und Satire Bahn bricht.

Die Texte werden gerahmt durch ein Vorwort des Historikers Hans-Lukas Kieser zu den HintergrĂŒnden des Völkermords sowie ein Nachwort von Corry Guttstadt und Ragıp Zarakolu zur Erinnerungspolitik in der TĂŒrkei.

Am 11. Juli 2016 hat Corry Guttstadt ihr Buch bei uns in der Buchhandlung vorgestellt.

 

Thomas Piketty – Das Kapital im 21. Jahrhundert


geb. Beck C. H. 2014;
seit 2016 Beck-TB,
816 S., 16,95 €
ISBN 978-3-406-68865-2


Thomas Piketty – Das Kapital im 21. Jahrhundert

Dieses Buch erzĂ€hlt vordergrĂŒndig nichts Neues, wir alle wissen, wie der Reichtum bei einer kleinen gesellschaftlichen Minderheit wĂ€chst, was fĂŒr eine enorme Umverteilung in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat.
Aber das im einzelnen verstĂ€ndlich zu verfolgen, die empirischen Daten so exakt und auch (ja, tatsĂ€chlich!) spannend aufbereitet lesen zu können und nachvollziehbare LösungsvorschlĂ€ge fĂŒr die anhaltende ökonomische Krise vorgelegt zu bekommen – das hat ausser diesem französischem Ökonomen noch niemand fertiggebracht. Zu Recht jubelt die kritische Wissenschaft.

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Wem dieser Schmöker gar zu gwaltig geraten ist, der möge sich zunĂ€chst mit dieser gekonnten EinfĂŒhrung (nebst RezensionsĂŒberblick und Darlegung der wichtigsten kritischen EinwĂ€nde gegen Piketty) befassen:

Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre

Kapitalismus:
Die ersten 200 Jahre

Thomas Pikettys "Das Kapital im 21. Jahrhundert" – EinfĂŒhrung, Debatte, Kritik

Stephan Kaufmann und Ingo StĂŒtzle

kartoniert Bertz + Fischer, 2014, 112 S., 7,90 €, ISBN 978-3-86505-730-3

 

George Packer – Die Abwicklung


geb. FISCHER-Verlag 2012;
seit 2015 als Fischer TB,
509 S., 14,99 €
ISBN 978-3-596-03025-5


George Packer – Die Abwicklung

Eine innere Geschichte des neuen Amerika

Das epochale Buch zur Lage der USA - so etwas schaffen nur die Amerikaner: Ein lesbares, unterhaltsames, spannendes Sachbuch ĂŒber ein bedrĂ€ngendes Thema zu schreiben - ohne dabei wissenschaftliche Standards zu missachten.

Das ist eine Schreibe, die es hierzulande nicht (oder kaum!) gibt. In Deutschland - so scheint es - mĂŒssen wissenschaftliche Reportagen oder Essays unlesbar sein, sonst genĂŒgen sie wissenschaftlicher Reife nicht. 

Lesen Sie die ganze Buchbesprechung 


Dieses Werk (und Sie können beliebig andere, z.B. zur amerikanischen BĂŒrgerrechtsbewegung nehmen - Sie werden eine FĂŒlle von hochqualifizierten aber dennoch höchst spannend zu lesenden Abhandlungen finden, leider nur ein Bruchteil in deutscher Übersetzung!) spĂŒrt den BrĂŒchen und Verwerfungen in der amerikanischen Gesellschaft in beinahe 50 EinzelportrĂ€its oder Reportagen nach, ein bislang beispielloses, anschauliches Unterfangen. Wer die heutige USA verstehen will, sollte dieses Buch lesen.

(hn)

Emma Goldman – Gelebtes Leben


kartoniert Edition Nautilius
2014, 926 S., 29,90 €
ISBN 978-3-89401-810-8


Emma Goldman – Gelebtes Leben

Autobiografie (Überarbeitete Neuausgabe). Mit einem Vorwort von Ilija Trojanow.

Aus dem Englischen ĂŒbersetzt von Marlen Breitinger, Renate Orywa und Sabine Vetter, ĂŒberarbeitet und mit einer Chronik versehen von Tina Petersen.

"Das gut 900seitige Werk ist eine erstaunlich aufregende LektĂŒre. Das liegt nicht nur daran, dass das Leben Emma Goldmans ĂŒber die Jahrzehnte und Kontinente hinweg ĂŒberaus aktiv und ereignisreich war (...). Es ist auch dem Tonfall geschuldet, in dem Emma Goldman dies alles beschreibt: der leidenschaftlichen, gleichsam atemlosen Getriebenheit, die sich durch die Seiten zieht, und die einen hineinzieht in das Entsetzen, die EntrĂŒstung, das Engagement der Autorin."
Catherine Newmark, Deutschlandradio Kultur

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 Emma Goldman (1869–1940), Anarchistin, RevolutionĂ€rin, Agitatorin, Frauenrechtlerin, beschreibt ihr ungewöhnliches, aufregendes Leben. Sie ist Sigmund Freud, Peter Kropotkin, Ernest Hemingway und Lenin begegnet, hat sich gegen die Wehrpflicht eingesetzt und fĂŒr die Rechte der Arbeiter, der Frauen und Kinder und fĂŒr die freie Liebe gekĂ€mpft. "Gelebtes Leben" ist das Zeugnis einer kĂ€mpferischen, unabhĂ€ngigen Frau.
Emma Goldman, "die rote Emma", war zu ihren Lebzeiten eine gleichermaßen verehrte wie gefĂŒrchtete Symbolfigur des Anarchismus. Sie wurde bekannt durch ihre Schriften, ihre Reden und ihre engagierten Kampagnen fĂŒr die Rechte der Arbeiter, fĂŒr Geburtenkontrolle, gegen die Wehrpflicht und fĂŒr die Friedensbewegung.

"Goldmans Autobiografie ist nicht nur ein spannendes Zeitdokument der anarchistischen Bewegung. (...) Es ist zugleich das SelbstportrĂ€t einer Frau, die zwischen dem Wunsch nach sexueller und persönlicher ErfĂŒllung und dem Drang, gegen UnterdrĂŒckung zu kĂ€mpfen, hin- und hergerissen ist. Vor allem hinterlĂ€sst es grenzenlose Bewunderung fĂŒr eine Frau, die gegen alle WiderstĂ€nde immer ihren eigenen Weg gegangen ist. Trotz der ĂŒber 900 Seiten liest sich ihre Autobiografie wie ein atemlos geschriebener Roman, voller Leben und Engagement."
Claire Horst, Missy Magazin

Marlen Breitinger, Übersetzerin und Schauspielerin, ging mit einer szenischen Lesung aus "Gelebtes Leben" auf Tournee und gastierte damit am 8. Oktober 2012 in unserer Buchhandlung.

 

Karl-Heinz Dellwo – Das Projektil sind wir


Roman, kartoniert Ed. Nautilus 2007, vergriffen


Karl-Heinz Dellwo – Das Projektil sind wir

Karl-Heinz Dellwo – Das Projektil sind wir, der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Dellwo war als Mitglied der RAF an der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm 1975 beteiligt und dafĂŒr 20 Jahre inhaftiert 
 Mit diesem kritischen, politisch reflektierten Lebensbericht stellt er sich der Debatte.

 

Ulrike Herrmann – Hurra, wir dĂŒrfen zahlen


kartoniert Westend Verlag 2010;
seit 2011 als Piper TB,
223 S., 11,00 €
ISBN 978-3-492-26485-3


Ulrike Herrmann – Hurra, wir dĂŒrfen zahlen.

Der Selbstbetrug der Mittelschicht

Die schwarz-gelbe Bundesregierung war fĂŒr die Mittelschicht ein absehbar schlechtes GeschĂ€ft – und trotzdem hat diese Schicht, die noch immer die weitaus meisten Wahlberechtigten stellt, die "Koalition der Mitte" an die Macht gewĂ€hlt. Wie ist das zu erklĂ€ren?
Die Redakteurin der "taz", Ulrike Herrmann, macht in ihrem Buch "Hurra wir dĂŒrfen zahlen" einen interessanten Versuch, diesen "Selbstbetrug der Mittelschicht" zu erklĂ€ren.

BegĂŒtert ist die Mittelschicht nicht: Zu ihr zĂ€hlt, wer zwischen 1000 und 2200 Euro netto im Monat als Single bzw. 2100 bis 4600 Euro als Ehepaar mit zwei Kindern monatlich verdient. Die Mittelschicht unterstĂŒtzt in ihrer Mehrheit eine Politik, die vor allem der Oberschicht dient,

  • weil es die Reichen verstehen, ihre Macht und ihren Reichtum zu verschleiern,
  • weil der Glaube an den Aufstieg in der Mittelschicht ungebrochen ist,
  • weil sie ihren Status ĂŒberschĂ€tzt und ihre Aufmerksamkeit darauf lenkt, sich von der Unterschicht abzugrenzen.
Lesen Sie die ganze Buchbesprechung 


Die Deutschen scheinen zur SelbsttĂ€uschung zu neigen. Es ist fast egal, wie viel jemand verdient, viele fĂŒhlen sich "fast reich", nur 9 Prozent in Westdeutschland ordnen sich der Oberschicht zu und zur Unterschicht wollen nur 3 Prozent gehören - obwohl die ökonomische RealitĂ€t völlig anders aussieht.
Zwar wisse die ĂŒbergroße Mehrheit durchaus, dass die soziale Herkunft entscheidend sei, um zu Reichtum zu gelangen, doch ĂŒber zwei Drittel glaubten an die "Leistungsgesellschaft". "Obwohl die meisten klar erkennen, dass die Startchancen keineswegs gleich verteilt sind, wird Reichtum umstandslos akzeptiert." (48) Es ist geradezu paradox - an selbst profanen Beispielen, wie etwa der Partnerwahl (65) oder der "Begabtenförderung" (66ff.) ja sogar der Wahl der Vornamen fĂŒr die Kinder (101ff.) kann Ulrike Herrmann belegen, dass sich die Schichten immer stĂ€rker voneinander separieren und sich insbesondere die Elite immer mehr abschottet (65).

Unter dem Stichwort "Schickedanz-Syndrom" beschreibt die Autorin das "seltsame PhĂ€nomen", dass zwar objektiv der Reichtum zunehme, sich subjektiv aber immer mehr Reiche um ihre Zukunft sorgten. Die Reichen wĂŒrden arm gerechnet, wĂ€hrend die Armen zu den Reichen ernannt wĂŒrden, die als Schmarotzer lebten und die "LeistungstrĂ€ger" aussaugten (Sloterdijk-Debatte).

Typisch dafĂŒr, wie sich die Reichen arm rechneten, sei der Verweis auf die Einkommensteuerstatistik, wonach etwa die obersten 20 Prozent der SteuerbĂŒrger ĂŒber 70 Prozent des Gesamtaufkommens stemmten. Dabei wĂŒrde allerdings verschwiegen, dass die Reichen keineswegs ĂŒbermĂ€ĂŸig belastet wĂŒrden, denn selbst Spitzenverdiener zahlten im Durchschnitt nur 23,8% an Steuern auf ihr Einkommen. Selbst MultimillionĂ€re wĂŒssten sich arm zu rechnen. Der Verweis auf die Einkommensteuer sei aber auch schon deshalb eine IrrefĂŒhrung, weil diese Steuerart schon fast zur "Bagatellsteuer" verkommen sei (77) und sich der Staat immer stĂ€rker durch die indirekten Steuern finanziere, die alle gleich betreffen. FĂŒr 2010 sei etwa die Körperschaftssteuer mit 7,2 Milliarden Euro niedriger eingeplant als die Versicherungsteuer mit 10,45 Milliarden Euro. Bei den Sozialabgaben wĂŒrden die Reichen sogar prozentual weniger belastet als die Mittelschicht – ein recht seltener Fall auf der Welt (78).

Herrmann geht in weiteren Kapiteln dem PhĂ€nomen nach, warum sich die Mittelschicht so willig tĂ€uschen lasse. Als einen Grund nennt sie, dass die Nachkriegszeit und das Wirtschafswunder mental fortwirkten. Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Helmut Schelsky) habe die Selbstdeutung der Deutschen nachhaltig beeinflusst. Hierarchien oder der Klassenbegriff waren im Sprachgebrauch verschwunden und "Schichten" wurden von "Milieus" abgelöst. Teilhabe am Konsum sei maßgebend geworden. Dabei seien es nur verschiedene Arten gewesen, mit der eigenen Armut umzugehen – Armut sei Armut geblieben (86). Wenn Wut hochkomme, dann richte sie sich allein auf Manager und Politiker, aber nicht auf MillionĂ€re oder MilliardĂ€re.

Ein weiteres Element des Selbstbetrugs sei die Bildung oder wenigstens die Hoffnung, dass zumindest die Kinder aus der Mittelschicht aufsteigen könnten. Schon im Kleinkindlebenslauf fĂ€nde inzwischen "eine Art WettrĂŒsten" statt. Der eigentliche Stress beginne aber mit der Schule bzw. der Schulauswahl. Der Massenandrang auf die Gymnasien entwerte das Abitur, das kein Erkennungszeichen der Eliten mehr sei, daraus erklĂ€re sich der Drang vor allem besser Verdienender, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Die Mittelschicht-Eltern bemerkten gar nicht, dass sie sich auf einen Konkurrenzkampf einließen, den sie nie gewinnen könnten. Statt darauf zu drĂ€ngen, dass die staatlichen Schulen besser ausgestattet werden, fordere die Mittelschicht Steuersenkungen, wovon vor allem die Eliten profitierten, und entzögen damit dem Staat noch die letzten Mittel fĂŒr eine Bildung, die fĂŒr mehr Chancengleichheit nötig wĂ€ren.

Zwar habe es in der deutschen Mittelschicht schon immer AbstiegsĂ€ngste gegeben. Der Krisendiskurs sei stets ein Medium bĂŒrgerlicher SelbstverstĂ€ndigung gewesen, neu sei jedoch, dass die Sorgen durchaus berechtigt seien. Gehörten 2000 noch 49 Millionen Menschen der Mittelschicht an, so waren es 2006 nur noch 44 Millionen. Gleichzeitig fand sich rund ein Viertel aller BundesbĂŒrger in der Unterschicht wieder (121).

Ulrike Herrmann geht dem PhĂ€nomen dieses Abstiegs nach, den sie als "deutschen Sonderweg" bezeichnet (123), denn ökonomisch seien etwa die fallenden Reallöhne nicht zu erklĂ€ren (125). Ihr scheint das eine Frage der MentalitĂ€t zu sein. So sei es auffĂ€llig, wie stark sich die Deutschen immer wieder von dem Arbeitgeber-Argument beeindrucken ließen, die Löhne dĂŒrften kaum steigen, weil sonst die internationale WettbewerbsfĂ€higkeit gefĂ€hrdet sei.

"Die deutsche Mittelschicht nimmt ihren eigenen Verlust nicht wahr, weil sie sich nach unten abgrenzen kann" (126), die Zuversicht, niemals zum Prekariat zu gehören, verleite die Mittelschicht, sich mental mit den Unternehmern zu verbĂŒnden.

Die Verachtung fĂŒr die Unterschicht wachse sogar, je stĂ€rker der eigene ökonomische Status bedroht werde. Die Gesamtstimmung in Deutschland sei: "Wer arm ist, muss sich den Verdacht gefallen lassen, eventuell ein BetrĂŒger zu sein" (130). Dieser uralte und nicht nur in Deutschland verbreitete Generalverdacht sei mit der Agenda 2010 offizielle Regierungspolitik geworden, wie Ulrike Herrmann mit zahlreichen Belegen untermauert. Die Wirkung blieb nicht aus: Nach einer Erhebung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer im Jahre 2009 meinten 47 Prozent der Bevölkerung, dass Langzeitarbeitslose "arbeitsscheu" seien und sogar 57,2 Prozent nahmen an, dass sich Hartz-IV-EmpfĂ€nger "auf Kosten der Gesellschaft ein schönes Leben machen" (135).

Dem von manchen "Experten" (Sarrazin, Nolte, u.a.) und vom "Boulevard" erzeugten Zerrbild ĂŒber die "Unterschicht", von dem sich die Mittelschicht nobel abhebe, wurde durch massive Kampagnen mit absurden Rechenbeispielen untermauert, wonach sich Arbeitslose besser stellen als Arbeitsplatzbesitzer. "Statt wahrzunehmen, dass die eigenen Realeinkommen fallen, vermutet man lieber, dass die Hartz-IV-EmpfĂ€nger zu viel kassieren" (155). Das Spiel, das die Mittelschicht mit sich treiben lasse, funktioniere folgendermaßen: "Die Reichen rechnen sich arm, wĂ€hrend die Armen reich gerechnet werden. Damit verkehrt sich die Wahrnehmung, was eigentlich AusplĂŒnderung ist. Es sind nicht mehr die Unternehmer, die ihre Angestellten ausbeuten – stattdessen beuten angeblich die Armen die Mittelschicht aus" (158).

Wenn die Mittelschicht aber erst einmal glaube, dass der Staat nur noch den Armen nutze, dann stimme sie auch Steuersenkungen zu, von denen tatsĂ€chlich nur die BegĂŒterten profitierten.

"Umverteilung" sei in Deutschland ein "Tabuwort", aber es werde permanent umverteilt – bisher allerdings von unten nach oben (179). Die Finanzkrise verstĂ€rke den Umverteilungsprozess: Zum einen, weil der Staat das Vermögen der Eliten rettete, indem er die Banken gestĂŒtzt hat. Zum anderen, weil der Staat dafĂŒr Schulden aufnehmen musste und diese Kredite wiederum vor allem von den Eliten gewĂ€hrt wĂŒrden, die dafĂŒr die Zinsen kassierten. Bisher sehe es ganz danach aus, dass die Mittelschicht alleine auf den Kosten der Finanzkrise sitzen bleibe.

Ulrike Herrmann liefert keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine Streitschrift in aufklĂ€render Absicht. Ihr Buch "Hurra, wir dĂŒrfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht" ist ein journalistisch gut geschriebenes und eingĂ€nglig lesbares Buch. Es hĂ€lt der herrschenden Ideologie "der Mitte" einen Spiegel vor, aus dem sich ein realistisches Selbstbild der Mittelschicht widerspiegelt, das aber so gar nicht dem entspricht, was diese Schicht sich selbst einbildet und was ihr tĂ€glich von den mĂ€chtigen Eliten eingeredet wird.

Es bietet eine FĂŒlle von Fakten und nachvollziehbaren Argumenten - gegen die Westerwelles, Sarrazins, Merkels und Scheuerls (Volksabstimmung gegen die Hamburger Schulreform).

(hn)